Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

Auch Heranwachsende, also junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren, können noch nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden. Auch wenn sie volljährig sind und demnach grundsätzlich als strafrechtlich voll verantwortlich gelten, befinden sich doch viele Menschen dieser Altersgruppe noch in einer Übergangsphase. Auch wenn die biologische Reife schon gegeben sein sollte, gilt dies in vielen Fällen nicht für die psychisch-soziale Entwicklung. Deshalb wird bei einem heranwachsenden Beschuldigten immer im Einzelfall entschieden, ob er nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht bestraft wird. Gleicht der Heranwachsende in seiner Person oder seinem Handeln noch eher einem Jugendlichen, soll mit den Mitteln des Jugendstrafrechts erzieherisch auf ihn eingewirkt werden. Ist der Heranwachsende bereits gefestigter, so dass eine erzieherische Maßnahme ohnehin nicht Erfolg versprechend wäre, bestraft man ihn nach den allgemeinen Regeln des StGB.

In welchen Fällen die Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts auch für Heranwachsende gelten sollen, regelt § 105 Abs. 1 JGG. Danach findet Jugendstrafrecht auf Heranwachsende in den folgenden zwei Fällen Anwendung:

•    wenn die Persönlichkeit des Täters noch einem Jugendlichen gleich steht, § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG
•    wenn eine typische Jugendverfehlung vorliegt, § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG

Bleiben nach Ausschöpfen aller Aufklärungsmöglichkeiten noch Zweifel darüber, ob nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zu urteilen ist, wird nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ das in der Regel günstigere Jugendstrafrecht angewendet.
Verfahrensrechtlich bleibt zu beachten, dass Straftaten Heranwachsender, unabhängig von der Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht, stets vor speziellen Jugendgerichten verhandelt werden.

Mangelnde Reife, § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG

Nach § 105 Absatz 1 Nr. 1 JGG sind die Rechtsfolgen einer Straftat dem Jugendstrafrecht zu entnehmen, wenn der Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand. Dies ist der Fall, wenn der Heranwachsende in seiner Persönlichkeit erhebliche Entwicklungsdefizite aufweist und sich nach Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der Umweltbedingungen noch als ein in seiner Entwicklung unfertiger, ungefestigter und prägbarer Charakter darstellt. Dabei kommt es für die Beurteilung der seelisch-charakterlichen Reife des Täters immer auf den Zeitpunkt der Tat, nicht der Verurteilung, an. Beispielhafte Indikatoren für die Annahme einer Reifeverzögerung sind insbesondere das Konsumieren von Drogen, die Störung der psychosozialen Entwicklung in Kindheit und Jugend, das Aufwachsen im Heim, eine fehlende Lebensplanung oder die Unfähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Handeln.

Gesetz und Rechtsprechung gehen hinsichtlich der geistigen Reife eines Beschuldigten nicht von festen Altersgrenzen aus, sondern stellen auf eine dynamische Entwicklung zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr ab. Wenn die geistige Entwicklung aber abgeschlossen ist, der Heranwachsende also die einen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erreicht hat, ist Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. Auch bei einem eigentlich noch einem Jugendlichen gleichzustellenden Täter, der in seiner Entwicklung auf der Stufe eines Jugendlichen stehen geblieben ist, wird Erwachsenenrecht angewendet, wenn nicht zu erwarten ist, dass er noch über die erreichte Entwicklungsstufe hinaus gelangt. Auch wenn noch eine spätere Nachreife denkbar ist, reicht allein die gedankliche Möglichkeit der Weiterentwicklung nicht aus um Jugendstrafrecht anzuwenden.

Jugendverfehlung, § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG

Jugendstrafrecht ist zudem auf Heranwachsende anzuwenden, wenn es sich nach Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.
Damit lässt sich eine Jugendverfehlung objektiv aus den Tatumständen oder subjektiv aus den Tatmotiven ableiten. Nach den Tatumständen sollen Taten erfasst werden, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild Merkmale jugendlicher Unreife aufweisen. Dies können insbesondere Taten sein, die auf jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit, soziale Unreife oder Gruppenzwang beruhen. Auch ungeplante, spontane Einfälle oder leichte Beeinflussbarkeit sind Anzeichen für eine Jugendverfehlung. Aus subjektiven Gründen kann eine Jugendverfehlung angenommen werden, wenn die Beweggründe der Tat und ihre Veranlassung als jugendspezifisch anzusehen sind. Ganz typisch Motive für Jugendliche sind Imponiergehabe, Mutproben oder Abenteuerlust.

Die Annahme einer Jugendverfehlung scheidet nicht schon deshalb aus, weil das Delikt auch nach den konkreten Umständen, Motiven oder dem Erscheinungsbild von erwachsenen Tätern begangen werden könnte oder begangen wird. Es kommt immer auf die Umstände und Entstehungszusammenhänge der konkreten Tat an, so dass eine Jugendverfehlung bei keinem Tatbestand von vornherein ausgeschlossen werden kann.

Anwendbare Vorschriften

Kommt es zur Anwendung von Jugendstrafrecht, sind die meisten Sondervorschriften des JGG auch für Heranwachsende anwendbar. Ausdrücklich nicht anwendbar ist jedoch § 3 JGG, der einen besonderen Schuldausschließungsgrund nur für Jugendliche regelt. Selbst für schwerste Verbrechen ist das Höchstmaß einer Jugendstrafe auf zehn Jahre beschränkt. Erziehungsbeistandschaft und Heimerziehung dürfen aufgrund der Volljährigkeit für Heranwachsende nicht mehr angeordnet werden. Anders als bei Jugendlichen sind aber Privatklagen und Nebenklagen gegen Heranwachsende zulässig.
Doch auch wenn allgemeines Strafrecht angewendet wird, weil der Heranwachsende wie ein Erwachsener zu behandeln ist, gelten für ihn im Vergleich zu Erwachsenen bestimmte Privilegierungen. Das allgemeine Strafrecht kann gemildert werden, insbesondere kann von lebenslanger Freiheitsstrafe abgesehen werden. Stattdessen kann das Gericht Freiheitsstrafen von 10 bis 15 Jahren verhängen. Zudem darf Sicherungsverwahrung für Heranwachsende nicht direkt angeordnet, sondern lediglich vorbehalten werden.

Fazit

Mit der Möglichkeit auch Heranwachsende gegebenenfalls noch nach dem Jugendstrafrecht abzuurteilen bietet sich dort, wo Erziehungsberechtigte nicht mehr weiter kommen oder zum Teil schon versagt haben, die vielleicht letzte Chance erzieherisch an junge Erwachsene heran zu treten. Ziel des Jugendstrafrechts, auch bei der Anwendung auf Heranwachsende, ist es der erneuten Begehung von Straftaten entgegenwirken und so den Beginn einer kriminellen Karriere zu vermeiden.